Gedanken

„Bist Du wirklich für Dein Kind da?“ – Gedanken zum Thema „gemeinsame Zeit“

Es kostet mich etwas Überwindung – dieses Umdenken. Und gleichzeitig spüre ich, wie es mich freier macht. Leichter. Zufriedener. Heute möchte ich Dir davon erzählen, was mir in den letzten Tagen einmal mehr bewusst geworden ist.

Es war vor etwa zwei Wochen. Im Gespräch mit meiner Mentorin erzählte ich, dass ich mich wieder so kraftlos fühle. So ausgelaugt. Unzufrieden mit der Situation hier zuhause. Oft überfordert. Dass es mich traurig macht, dass so vieles anders läuft, als ich es mir wünschen würde. Auch wenn ich die Behinderung unseres Sohnes durch das Fragile X-Syndrom völlig angenommen habe und im Reinen damit bin, macht es mich trotzdem immer wieder mürbe, dass er so antriebslos ist, zu nichts zu motivieren ist. Dass er so wenig kindliche Neugier und Vorfreude zeigt. Dass vieles so eintönig scheint und mir das so viel Kraft raubt.

Meine Mentorin schien, die Tragweite unserer Situation sofort zu ergründen und riet mir, Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Wir sprachen über die verschiedenen Möglichkeiten: Beratung und Begleitung durch die Familienhilfe, eine Haushaltshilfe oder die Betreuung unseres Sohnes durch Familienangehörige oder „externe“ Kräfte. Doch gerade bei diesem letzten Punkt spürte ich sofort, dass sich in mir alles sträubte.

Schließlich möchte doch ich als Mutter Zeit mit meinem Kind verbringen und es nicht ständig in andere Hände geben. Ich als Mutter möchte doch die Zeit mit ihm genießen, gemeinsam spielen, Spaß haben, glücklich sein. Er kommt ja ohnehin schon 3x pro Woche erst spät nachmittags aus der Schule, dann gibt es noch einen Oma-Opa-Nachmittag – und an den anderen Tagen will ich doch für meinen Sohn da sein.

So erklärte ich es auch meiner Mentorin. Ihre Gegenfrage kam prompt: „Bist Du denn wirklich für ihn da?“

Ertappt! Ein ehrliches Eingeständnis.

Im ersten Moment nahm ich diese Frage ganz unbedacht auf wie jede andere Frage und antwortete mit einem selbstverständlichen „Ja, klar“. Als sie die Frage wiederholte, spürte ich, dass sie eine neue Bedeutung annahm. Und auf einmal fühlte ich mich ertappt.

Bin ich denn wirklich für meinen Sohn da? Rein praktisch betrachtet – ja! Denn ich bin bei ihm, ich sorge für ihn und kümmere mich um ihn. Ich wickle und wasche ihn, mache ihm sein Essen. Ich kuschle mit ihm oder versuche, ihn zu beschäftigen. Doch als ich tiefer hineinspürte, wusste ich, was der Kern der Frage war. Und auch, wie die Antwort lautete.

Ich musste mir ehrlich eingestehen: Oft bin ich eben nicht wirklich für ihn da. Ich bin zwar anwesend, aber in Gedanken abwesend. Und genau das ist der Punkt.

Denn während ich so gerne mit meinem Sohn spielen oder lachen würde, ist er meist nur dann zufrieden, wenn er fernsehen darf.  Vor lauter Enttäuschung und Frust, aber auch vor Traurigkeit über die Situation flüchte ich mich ganz oft in eine andere Welt – eine Parallelwelt. Ich bin im Handy unterwegs – oft völlig ziellos. Ich ertappe mich, wie ich zwischendurch am PC sitze und Mails checke, wie ich in Gedanken bei der Arbeit oder sonstigen Dingen bin. Nur nicht bei meinem Sohn.

Vom Wert der gemeinsamen Zeit

Die Frage meiner Mentorin war also absolut berechtigt und so wichtig für meine Erkenntnis:

Was ist diese gemeinsame Zeit mit meinem Sohn denn eigentlich wert, wenn ich doch gar nicht wirklich „da“ bin? So zumindest wird mich die gemeinsame Zeit mit ihm nicht erfüllen. Und ihn vermutlich auch nicht.

Also – sollte ich vielleicht doch darüber nachdenken, mein Kind neben der Betreuung in der Schule noch mehr „extern“ betreuen zu lassen? Ich weiß, dass er in solchen Situationen oft wesentlich motivierter ist und somit auch mehr für sich selbst mitnehmen kann.

Die gemeinsame Zeit, die ich mit ihm verbringe, sollte ich stattdessen wesentlich intensiver und bewusster wahrnehmen. Achtsamkeit üben. Ihn anschauen, seinen Geruch wahrnehmen. Oft sind es ja die Momente, in denen wir kuscheln, kitzeln oder raufen, in denen er ausgelassen und glücklich ist. So können wir diese Momente der wahrhaftigen Verbindung – im wahrsten Sinne des Wortes – noch intensiver auskosten. Erleben. Genießen. Dann bekommt unsere gemeinsame Zeit eine ganz andere Bedeutung. Der Gedanke daran fühlt sich gut an.

Weniger Widerstand – mehr Akzeptanz für das, was ist.

Gleichzeitig will ich versuchen, die Tatsache zu akzeptieren, dass ich so gerne öfter mit ihm spielen oder etwas unternehmen und Spaß haben würde, er aber oft nur vor dem Fernseher zufrieden scheint. Weniger Widerstand – mehr Akzeptanz. Weg von den gelernten Gedankenmustern und Glaubenssätzen, dass ich nur eine gute Mutter bin, wenn ich mein Kind bloß nicht zu viel vor den Fernseher setze. Denn das war immer mein Grundgedanke. Und der führt seit Jahren zu Stress und Ärger. Inzwischen habe ich es bereits akzeptiert, dass unser Sohn viel Zeit vor dem Fernseher verbringt, weil es ihm damit besser geht. Es scheint ihn zu entspannen (auch wenn Medienpädagog*innen nun vermutlich den Kopf schütteln werden). Es macht ihn glücklich. Im Gegensatz dazu überfordern ihn viele Spielsituationen ganz einfach. Das möchte ich ihm gerade nach einem anstrengenden Schultag nicht mehr zumuten. Ich akzeptiere, dass unser Sohn deutlich mehr fernsieht als andere Kinder – und dass ich trotzdem eine gute Mutter bin. Und: Ich höre auf, mich zu rechtfertigen – vor mir selbst und vor anderen. Grenzen setzen ja – aber nur soweit, wie es das Zusammenleben zuhause nicht komplett sprengt.

Seit wenigen Tagen lebe ich nun ruhiger, zufriedener. Ich habe den Groll und die Frustration abgelegt, wenn Dinge hier nicht so laufen, wie es mein altes Weltbild vorgesehen hatte. Ich nehme Situationen an, wie sie sind. Ich lege auch den Selbstvorwurf ab, dass ich es mir damit zu leicht mache, wenn ich mein Kind so oft vor den Fernseher setze. Denn leicht ist es keineswegs. Doch ich gebe den Widerstand auf und versuche, eine glückliche Mutter zu sein, und das scheint auch mein Sohn wieder einmal zu spüren. Auch er ist etwas zufriedener. Wir kommen in winzig kleinen Schritten wieder zueinander und genießen beide die gemeinsamen Momente.

Und genau das ist es doch, was zählt: Die gemeinsame Zeit intensiv zu er-leben.

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4 Kommentare für “„Bist Du wirklich für Dein Kind da?“ – Gedanken zum Thema „gemeinsame Zeit“

  1. Ich kann deine Gedanken nachvollziehen. Unsere Sohn ist auch am glücklichsten, wenn er an seinem Tablett (er nennt es Brett) auf YouTube Kinderfilme angucken kann. Am Anfang wollte ich auch das er weniger Zeit damit verbringt und lieber etwas mehr mir seinen Spielsachen spielt, aber mittlerweile haben wir es auch akzeptiert dass es ihm so am besten gefällt und wenn er Lust auf Spielen hat kommt er von alleine an oder nimmt sich etwas zum Spielen.

    1. Lieber Sven,
      schön, dass auch Ihr die Situation akzeptiert habt. Es macht das Ganze ein klein wenig leichter, oder?
      So erleben wir es übrigens auch – wenn er „genug Input“ durch fernsehen o.ä. hatte, dann kommt er von ganz alleine ins Spielen.
      Liebe Grüße, Steffi

  2. Hallo mein Name ist Sofie
    Mein Sohn Viki hat auch das X-Syndrom. Er zeigt kein normales Spielverhalten, die Waschmaschine und alles was man gut drehen kann – liebt er. Er schaut leider nicht TV. Er sucht sich am Tablett immer nur Waschmaschinen oder Leute die was Essen und dabei schmatzen. Ich kann das auch nicht nachvollziehen, was ihn daran so faszinierd. Für mich sind die Ferien immer sehr belastend-da ich alleinerziehend bin und Lebensmitteleinkäufe mit Viki unmöglich sind. Ich habe meinen kleinen Sohn leider nicht unter Kontrolle – er rennt und schreit 🙈und die Menschen schütteln den Kopf und starren uns an-deswegen versuche ich immer solche Situationen zu vermeiden. Ich liebe meinen Sohn, aber durch seine Reizüberflutungen, seine Angstzustände, fehlende Gefahreneinsicht, bringt er mich oft an meine Grenzen.
    Mein Leben davor war toll, Sommerurlaube, Skifahren im Winter, bummeln durch Märkte…..
    Jetzt ist alles anders. Isolation am Besten nur Viki und ich
    Ich vermisse mein altes Leben, aber einer muss die Verantwortung tragen, für ein Kind, was keine Grenzen einhält, sich selber nicht richtig spürt, sich nicht mitteilen kann und sehr viel Heimweh hat.
    Denn Zuhause fühlt er sich am
    “ Wohlsten“

    1. Liebe Sofie,
      ich kann so gut nachempfinden, was Du beschreibst – auch wenn unsere Situation natürlich wieder eine andere ist. Doch wenn ich versuche, mich in Deine Situation hinein zu versetzen, spüre ich die große Last, die Du – bei aller Liebe für Dein Kind – trägst.
      Ich wünsche Dir von Herzen alles Liebe und viel Kraft für Euren Alltag!
      Liebe Grüße, Steffi

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