Ehe & Familie Gedanken

Internat, Kinderhaus, Kurzzeitpflege. Kann ich mein Kind einfach weggeben?

Es fühlt sich an wie an absolutes Tabu-Thema. Doch gerade deshalb finde ich es so wichtig, darüber zu sprechen: Kann ich mein Kind mit Behinderung einfach weggeben? Wie kommen wir als Eltern überhaupt auf diesen Gedanken? Welche Möglichkeiten gibt es für Familien? Und: Welche Gefühle ruft dieser Gedanke hervor? Ein erster kleiner Einblick in ein großes Thema.

Wie kommt man auf den Gedanken, sein Kind „wegzugeben“?

Ja, ich habe die Frage ganz bewusst so überspitzt formuliert. Das eigene Kind „weggeben“, „abschieben“ – denn so fühlt es sich für mich irgendwie an, wenn ich mir vorstelle, dass wir unseren Sohn in externe Betreuung geben, beispielsweise in ein Internat. Mein Mutterherz möchte schließlich rund um die Uhr für unser Kind da sein, möchte voll und ganz Mama sein und nicht räumlich getrennt von unserem Sohn leben. Zumindest noch nicht jetzt! Gleichzeitig weiß mein Verstand, dass es einen Grund gibt, warum wir über dieses Thema sprechen. Und dieser Grund ist nicht einfach irgendeine Laune, sondern weit tiefgreifender.

Zugegeben: Das Thema ist für uns nicht ganz neu. Vor vier Jahren haben wir zum ersten Mal darüber gesprochen. Damals war unser Sohn gerade einmal vier (!) Jahre alt. Unser Arzt im SPZ hat uns zu diesem Zeitpunkt bereits aufgeklärt und signalisiert, dass sich viele Familien dafür entscheiden, ihr Kind mit der Einschulung ins Internat zu geben. Dies könne sowohl für die Eltern als auch für das Kind Erleichterung bringen – insbesondere wenn man mit herausforderndem Verhalten zu tun hat. Doch bei aller Überforderung war mir klar: Ich hätte es nicht übers Herz gebracht. Heute ist das Thema aktueller als zuvor. Und nicht wirklich einfacher. Aber warum?

Belastung für das Familienleben

Ich formuliere es mal so: Unser Familienleben leidet zunehmend unter den „Folgen“ des fragilen X-Syndroms. Wir als Eltern kommen regelmäßig an unsere Grenzen – die Betreuungssituation ist eine große Belastung. Das betrifft weniger den pflegerischen Aspekt, sondern vielmehr die psychosoziale und emotionale Komponente. Stimmungsschwankungen mit Impulsausbrüchen und auf der anderen Seite sehr trägem Verhalten, die grundsätzlich extrem niedrige Motivation unseres Sohnes – das erschwert unseren Alltag massiv. So ist auch das Freizeit(er)leben für uns als Familie stark eingeschränkt – und wäre doch so wichtig, um etwas Leichtigkeit in unseren Alltag zu bekommen.
Doch fast alles, was anderen Kindern Freude bereitet, stößt bei unserem Sohn auf Ablehnung, auf Gegenwehr. Diese Erfahrungen haben wir leider schon oft genug gemacht. Wie gerne würden wir als Familie gemeinsam etwas unternehmen und Spaß haben, mit ihm auf den Spielplatz gehen oder in den Tierpark, im Sommer Eis essen und im Winter Schlitten fahren. Doch fast alles endet in Tränen und Frust. Am liebsten ist unser Sohn Zuhause. Dort ist er in seiner gewohnten Umgebung und kann vor allem eins: fernsehen. Das ist (bis auf die Zeiten in unserem Pool) die einzige Beschäftigung, die ihn zufrieden macht. Während andere Familie gemeinsam etwas unternehmen, Spaß haben und die neugierigen Kinder lachen sehen, müssen wir immer sehr genau schauen, ob und wie wir unseren Sohn motivieren können. So sind gerade die Wochenenden und Ferienzeiten eine echte Herausforderung. Das macht auf Dauer müde, traurig und hilflos und geht an uns als Eltern nicht spurlos vorbei.

Fehlende Entwicklungsmöglichkeiten für unseren Sohn

Auf der anderen Seite spüren wir auch, dass es für unseren Sohn sehr eintönig ist, wenn er mit uns diesen sehr eingeschränkten Alltag erlebt und so auch wenig gefordert ist. Natürlich versuchen wir, mit ihm viel Eigenständigkeit zu trainieren und ihm auch in der Freizeit immer wieder etwas zu bieten. Doch mit seiner fehlenden Motivation steht er sich dabei oft selbst im Weg. In der Schule dagegen lässt er sich durch andere Kinder und das Kollegium wesentlich besser mitziehen und kann dadurch mehr aktiv erleben und teilweise sogar genießen. Diese positiven Erfahrungen sind so wichtig für ihn, allerdings zuhause oft nur schwer möglich. Auch vor diesem Hintergrund ist der Gedanke an ein Internat nicht ganz abwegig. Hier könnte sich geschultes pädagogisches Personal gezielt um ihn kümmern – sicher auch mit mehr Kraft, die bei uns oft zuneige geht.

Welche Möglichkeiten gibt es?

Ich habe mich in den letzten Wochen intensiv mit dem Thema beschäftigt und zumindest für den Anfang hilfreiche Infos für unsere Situation gefunden. Dabei kann ich natürlich nur für uns persönlich sprechen – und für unsere Region hier vor Ort.

1. Internat

Die Unterbringung im Internat kann man sich in etwa so vorstellen: Internat, also Wohnbereich, und Förderschule bilden ein neues Zuhause für die Kinder. Sie werden von pädagogischen und pflegerischen Fachkräften betreut und leben wie im Familienverbund zusammen.
Im Gespräch mit einer anderen Mutter habe ich einen Einblick bekommen, wie ihre Erfahrungen mit einem Internat sind. Ihre Tochter lebt seit mehreren Jahren dort – anfangs nur unter der Woche, inzwischen auch an den Wochenenden. Ganz nach Bedarf. Aus ihren Erzählungen konnte ich erkennen, welche Entlastung diese Entscheidung für die Familie war und dass sie sehr zufrieden damit sind.

Vorteile:

  • Entlastung für die Eltern
  • Das Kind erlebt in einer Gruppe mit neuen Bezugspersonen eine andere Motivation als zuhause und hat bessere Chancen für die eigene Entwicklung.

Nachteile:

  • Hier sind die Kinder in erster Linie unter der Woche betreut; doch die Entlastung unter der Woche steht für mich persönlich gar nicht im Vordergrund – schwieriger sind Wochenenden und Ferien.
  • Die für uns in Frage kommenden Internate liegen anderthalb bis zwei Stunden Fahrzeit entfernt.

2. antonius Kinderhaus

Das Kinderhaus von antonius : gemeinsam Mensch in Fulda ist für mich auf den ersten Blick vergleichbar mit einem Internat – nur in direkter Nähe zu unserem Wohnort. Hier können die Kinder (dauerhaft) wohnen und werden mit dem Bus zur Schule gebracht.
Kinder ab dem sechsten Lebensjahr bekommen hier ein Zuhause – ein Leben in familienähnlichen Strukturen in kleinen Wohngemeinschaften. Hier wird ihre Selbstverantwortung gefördert: Sie sind an der Lebensgestaltung und an Entscheidungen beteiligt. Gleichzeitig sollen die Eltern als wichtigste Bezugspersonen gestärkt werden.

Vorteile:

  • Nähe zu unserem Wohnort
  • Das Kind erlebt in einer Gruppe mit neuen Bezugspersonen eine ganz andere Motivation als zuhause und hat bessere Chancen für die eigene Entwicklung.

Nachteile:

  • Ähnlich wie im Internat: Die Betreuung unter der Woche ist nicht unser Fokus.
    Wichtiger ist die Entlastung an Wochenenden und in den Ferien.

3. Kurzzeitpflege

Diese Form der Betreuung hat sich für mich als besonders attraktiv herausgestellt: Die Kurzzeitpflege. Sie bietet die Möglichkeit, das Kind für eine begrenzte Zeit in Pflege zu geben (tage- oder wochenweise). Ziel der Kurzzeitpflege ist es, die pflegenden Angehörigen zu entlasten. Sie ist auf eine Dauer von acht Wochen im Kalenderjahr beschränkt. Für diese Zeit übernimmt die Pflegekasse einen Teil der Kosten für die stationäre Unterbringung.
Das Schöne: Auch das antonius Kinderhaus bietet die Möglichkeit der Kurzzeitpflege. Hierfür steht ein Platz in einer der Gruppen zur Verfügung, den man entsprechend im Voraus buchen kann.

4. Verhinderungspflege

Im Gegensatz zur Kurzzeitpflege findet die Verhinderungspflege zuhause statt – stunden- und tageweise. Sie ist auf sechs Wochen pro Jahr begrenzt. Diese Option können wir mit der Kurzzeitpflege kombinieren und uns so weitere Entlastung organisieren. Dazu braucht es gut ausgewählte Bezugspersonen, mit denen wir in einem guten Vertrauensverhältnis stehen und bei denen sich unser Sohn wohlfühlt.

Welcher Weg ist der richtige für uns?

Der Gedanke daran, dass unser Sohn in naher Zukunft im Internat wohnen könnte, fühlt sich für mich fremd an. Aktuell bin ich fest davon überzeugt: Das ist nicht der richtige Weg für uns. Ich möchte mein Kind nicht dauerhaft in fremde Hände geben. Gleichzeitig weiß ich, dass wir etwas ändern müssen, damit wir uns nicht alle an der Situation aufreiben.
Ich kann mir gut vorstellen, dass die Unterbringung im antonius Kinderhaus über die Kurzzeitpflege ein erster Schritt ist. So könnten wir langsam austesten, wie es sich für beide Seiten anfühlt. Können erste Erfahrungen sammeln und dann schauen, wie es weitergeht. Vielleicht hilft uns dieser Schritt ja schon, um in Zukunft etwas leichter durch den Alltag zu kommen.

Einen Versuch ist es wert.

Bildquelle: ww.canva.com

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